Die ikonische Produktivität der Wunde in der literarischen Moderne

Die Körpergrenze ist keine übergeschichtliche Konstante, sondern kulturhistorisch höchst wandelbar. Bis zur Renaissance wurde der Leib als durchlässig und offen gedacht. Erst allmählich setzt sich in der Neuzeit das Modell des homo clausus durch, des geschlossenen Menschen, der seine Peripherie als dichte Grenze denkt, die ihn von der Welt und anderen Leibern trennt. Um 1900 mehren sich allerdings in der Literatur die Stimmen, die den Schutzraum einer solchen Abgrenzung als isolierend und einengend empfinden. Autoren wie Kafka, Benn, Bataille und Jahnn artikulieren Sehnsüchte nach einer Öffnung der Grenze, ohne sich aber vom bedrohlichen, verletzbar machenden Aspekt eines solchen Aufbruchs ganz lösen zu können. Dieses ambivalente Öffnungsmoment wurde bisher kaum systematisch und umfassend untersucht.

Die Wunde verbildlicht durch ihre ikonische Struktur als schmerzhafte Öffnung an der Körperoberfläche genau diese Ambivalenz. Sie macht die stumm vorausgesetzte Beschaffenheit der Peripherie bewusst und konkret verhandelbar. Als Schwellenbild bringt sie radikal gegensätzliche Konzeptionen sowie vormals getrennte Räume und Leiber in ein dialektisches Verhältnis zueinander und setzt so eine poetische Bildproduktion in Gang, die sich entlang der prekär gewordenen Köpergrenze entzündet. Das Forschungsprojekt widmet sich anhand verschiedener Texte aus der literarischen Moderne dem Wechselspiel zwischen der ikonischen und der kulturhistorischen Dimension der Wunde.